Solothurn, Zentralbibliothek, Cod. S III 1
Schönherr Alfons, Die mittelalterlichen Handschriften der Zentralbibliothek Solothurn, Solothurn, 1964, S. 205-207.
Handschriftentitel: Graduale Fratrum Minorum
Entstehungszeit: 14. Jahrh. (um 1320-1330).
Umfang:
313 Bl.
Format: 45/31 cm
Seitennummerierung: Rote Originalfoliierung durch römische Rektozählung am Oberrand : (1r) .I. ⁓ (303r) .CCCXI., von einem grün-roten Doppelkreis um schlossen. Die Hs. wurde bei der Katalogisierung neu durchfoliiert.
Lagenstruktur: Sexternen.
Zustand: Blattverluste (mit Textverlust): 1 nach 24, 4 nach 231, 2 nach 298, 3 nach 301 und 6 nach 303. Beschädigt: 19, 72, 115, 190, 301-303 und 305.
Seiteneinrichtung:
Schriftrahmen in zarter brauner Lineatur. Die Textschrift mit 9 Zeilen pro Seite läuft zwischen einem feinen, mit Stift ausgezogenen Linienpaar; Zirkelstiche.
Schrift und Hände: Gotische Textur (littera textualis formata) von einem einzigen anonymen Schreiber aus einem oberrheinischen Minoritenskriptorium; vgl. im erwähnten Statutum pro libris choralibus scribendis, Absatz 4: addiscant et cogantur ad hoc. Hervorragende kalligraphische Leistung.
Musiknotationen: Quadratnotenschrift auf vier roten Linien mit 9 Systemen pro Seite; vgl. dazu Statutum pro libris choralibus scribendis (f. 1r, Absatz I).
Buchschmuck:
- Rote Überschriften und Rubriken.
- Sämtliche Anfangsbuchstaben zwei- oder mehrfarbig kalligraphiert.
- Für die Zwischengesänge schwarze Anfangsbuchstaben (cadassae), grün und rot konturiert und durchwegs mit ornamentalen Motiven gefüllt, z. T. auch mit Profilköpfen und Maskengesichtern.
- Als Federprobe (8r) Tierkarikatur mit Mönchstonsur.
- Für die Hauptabschnitte und Hochfeste große sorgfältig kalligraphierte Filigraninitialen, die mit alternierend kolorierten Fleuronnémustern, Groteskfiguren, bunten Zierleisten sowie mit Rundmedaillons und Drolerien besetzt sind: (2r) (14v) (17r) (18v) mit dem durch die Beischrift Joh(anne)s als Evangelistensymbol gekennzeichneten Adler; (26r) (42v) (8Ov) (103r) (130r) (141r) (147v) (151v) (210v) (218r) und (220r). Zahlreiche kleinere Initialen in derselben Filigrantechnik.
Spätere Ergänzungen:
a) (304r-304v) als gleichzeitiger Nachtrag das Gradualresponsorium für Dienstag nach dem 3. Fastensonntag (Ab occultis meis);
b) (304v-305v) Nachträge saec.XV;
c) (306r-313v) verschiedene Nachträge und Ergänzungen aus dem 17. Jahrhundert (mit Schreibermonogramm).
Die als Anhang beigehefteten Nachträge saec. XVII (signiert: F O K) stammen aus der Hand des Solothurner Minoriten Octavian Keyser (siehe ZBS, cod. S 47) = Halbeysen, Victor: Album nigrum, f. 116r).
a) (304r-304v) als gleichzeitiger Nachtrag das Gradualresponsorium für Dienstag nach dem 3. Fastensonntag (Ab occultis meis);
b) (304v-305v) Nachträge saec.XV;
c) (306r-313v) verschiedene Nachträge und Ergänzungen aus dem 17. Jahrhundert (mit Schreibermonogramm).
Die als Anhang beigehefteten Nachträge saec. XVII (signiert: F O K) stammen aus der Hand des Solothurner Minoriten Octavian Keyser (siehe ZBS, cod. S 47) = Halbeysen, Victor: Album nigrum, f. 116r).
Einband:
Dunkelbrauner Schweinslederband saec. XVII über kräftigen Buchenholzdeckeln (Rückdeckel gebrochen), Kanten nach innen abgeschrägt. Auf beiden Deckeln reiche Renaissancemuster in Blinddruck. Rücken fünfbündig; farbig (blau-weiß) umstochenes Kopfkapital. Die zehnteiligen Deckelbeschläge verloren. Zwei vom Rückdeckel ausgehende Schließbänder (abgerissen), die beiden Messinghaften am Vorderdeckel erhalten. Der ursprüngliche Buchblock wurde beim Neubinden im 17. Jahrhundert oben und unten stark beschnitten. Aus mehrfachen Bleistiftnotizen geht hervor, daß das vorliegende Graduale noch bis ins 18. Jahrhundert in Gebrauch war.
Zusatzmaterial: Als Unterlegfalze zwischen 204/205 und 214/215 Verschnitt aus lateinischer theologischer Pergamenthandschrift in fein kalligraphierter Buchminuskel saec. XIII/2 (vorhanden Bruchstück aus ‘De processionibus theologicis’).
Inhaltsangabe:
Kopie nach einer um 1270 redigierten Normalvorlage des revidierten franziskanischen Ordensgraduale.
-
Vorangestellt: (1r) Praefatio seu [Statutum pro libris choralibus scribendis].
>Ista rubrica ponatur in prima pagina gradualium singulorum.<
- 1. >In primis iniungitur fratribus ut de cetero tam in gradualibus quam anthiphonarijs nocturnis et alijs faciant notam quadratam … <
- 2. >Secundo quod custodiant eandem litteram … <
- 3.
>Tercio quod quemlibet librum … Item notandum … et penthecosten tantum.<
- Siehe B. Bughetti, Statutum saeculi XIII pro scribendis libris choralibus cum notis quadratis ad usum Fratrum Minorum: AFH 21 (1928) 406-412 (= Textedition mit Kommentar). Nur in wenigen handschriftlichen Exemplaren überliefert.
- Zur Überlieferung dieses liturgischen Bücherstatuts siehe van Dijk, Sources […] I, 110-120; die Neuedition des Textes ebd. 2, 362-364.
- 1.
2r-186r
Proprium de Tempore
>Dominica prima adventus.<
[Introitus].
Ad te levavi …–…
>Dominica xxiiij post Penthecosten<
[…] Dicit Dominus.
Darin u.a. zu bemerken:
- a). im Hymnus zur Kreuzverehrung am Karfreitag (121r: Lustris sex qui iam peractis ) die 5. Strophe bereits mit der revidierten Lesart (inferni claustra abigit / Cristus deus et homo / die surrexit tercia), vgl. The Origins 326;
- b). (158r) Festmesse de sancta Trinitate (im Orden bewilligt durch das Generalkapitel zu Paris 1266);
- c). (159v) >In festo corporis Christi< (im Orden erst 1319 eingeführt).
- 2.
186r-221v
Proprium Sanctorum
>In vigilia sancti Andree (29. November). Introitus.<
Dominus secus
-
>Communio.<
Beatus servus
(= In sancti Clementis: 23. November).
Zu bemerken: An Mariä Verkündigung hier noch der ursprüngliche Tractus (198r: Audi filia) und das ältere Offertorium (Ave Maria), vgl. The Origins 326 und 397; - (218r) >In natalis, Francisci< (mit der Rubrik: cum octava peragitur ) als Hochfest ausgezeichnet.
-
>Communio.<
Beatus servus
(= In sancti Clementis: 23. November).
- 3.
221v-273v
>Incipit conmune sanctorum de missali<
Daran: - 4. 278v-297v Kyriale und [Modus cantandi Gloria Patri ad introitum Missae].
- 5.
298r-313v
Sequentiarium
- (298r) >De nativitate Domini et de beata virgine.< Letabundus exultet (RH 10012) mit der Lesart corporali (dagegen im Missale cod. S 540, f. 8r,‘corporari’) passum est;
- (299r) [De resurrectione. Surgit Christus cum tropheo (RH 19918)] hier nur die Schlußverse erhalten;
- (299v) >Item de resurrectione.< Mundi renovatio (RH 11781);
- (301r) [De sancto Spiritu, Sancti Spiritus assit] // nobis gracia (RH 18557);
- (303r) >Item de sancto Spiritu.< Veni sancte Spiritus (RH 21242); [De s.Francisco. Letabundus decantet clerus (RH 10025)] Text verloren infolge Blattverlust.
Provenienz der Handschrift:
Aus dem Solothurner Minoritenkloster. Nach dessen endgültiger Aufhebung (1864) ging der Codex zusammen mit dem Missale S 540 (S. 85) und dem Antiphonar S III 5 (S. 208) in den Privatbesitz des letzten Solothurner Minoriten P. Franz Ludwig Studer über und nach dessen Tod (1873) durch Erbschaft an seinen Bruder Anton Studer.
Erwerb der Handschrift:
Aus der Vermögensliquidierung des letzteren [Anton Studer] kamen die drei Hss. in Besitz des Solothurner Schreinermeisters Urs Viktor Luterbacher († 1902) und schließlich an die Kantons- bzw . Zentralbibliothek . Vgl. Fr. Fiala, Analecta historica 9 (Martyrologien und Kalendarien = ZBS, cod. S 141,9) 239.
Bibliographie:
- Die vorliegende Hs. ist kurz beschrieben in S. J. P. van Dijk, Sources of the modern Roman Liturgy. The Ordinals by Haymo of Faversham and Related Documents I (1963) 215-216.
- Über Entwicklung und Überlieferung des Franziskaner-Graduale siehe: The Origins (1960) 325-333.
- Zum Initialstil vgl. gesamthaft E. J. Beer, Beiträge zur oberrheinischen Buchmalerei (1959).