St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 371
Euw Anton von, Die St. Galler Buchkunst vom 8. bis zum Ende des 11. Jahrhunderts, Band I: Textband, St. Gallen 2008 (Monasterium Sancti Galli, Bd. 3), S. 528-531, Nr. 157.
Titolo del codice: Epistolar
Luogo di origine: St. Gallen/Reichenau
Datazione: 3. Viertel d. 11. Jh.
Catalogue number:
157
Dimensioni:
320 pp.
Formato: 25,5 x 18,5 cm
Composizione dei fascicoli:
Lagen: 11 (Einzelbl. = p. 1-2), 22 (p. 3-6), 34 (p. 7-14), 48 - 208 (p. 15-286), 2110+1 (p. 287-308), 226 (p. 309-320)
Disposizione della pagina:
Schriftspiegel 17,5 x 12 cm, einspaltig zu 21 Zeilen.
Tipo di scrittura e mani: karolingische Minuskel, p. 3-14 von Hand A, p. 15-320 von Hand B (nach Hoffmann von «einem leidlich guten Reichenauer Kalligraphen, etwa im zweiten Drittel des 11. Jahrhunderts»).
Decorazione:
Zu den Anfängen der Episteln p. 3-14 Initialen u. Majuskeln in Minium, p. 2, 15-46 in Gold, Silber, Minium, grün u. blau schattiert, p. 47-320 Initialen in Minium u. Violett, teilweise gelb u. grün koloriert sowie Anfänge mit Minium-Majuskeln. Zu den hohen Festen Miniaturen in Deckfarbenmalerei mit Purpur, Purpurbraun, Minium, Grün, Blau, Weiß, Gold, das Autorenbild p. 2 mit Purpur, Blau, Weiß, Schwarz, Gold, Goldleistenrahmen. Inschriften auf allen Bildern weiß.
Contenuto:
Die in Klammern gesetzten Zahlen sind die fortlaufenden Nummern der Episteln.Inhalt u. Schmuck:
-
p. 1
in kleiner Schrift, neumiert, fragmentarisch der Kyrie-Tropus
[…] sedens super Cherubim ac Seraphim
(Nachtrag 12. Jh.: AH 47, 94f., ebenso nachgetragen in Sang. 376 - Nr. 159)
- (p. 2) Titelseite mit dem Bild des Apostels Paulus: Goldleistenrahmen mit perspektivischem, auseinander gezogenem Mäander, der Apostel frontal in der Mitte thronend, in Tunika u. Pallium, bärtig u. mit Stirnglatze, beide Arme ausstreckend zu den turmartigen Schreibpulten, die Rechte hält den Federkiel, die Linke das Federmesser, unter dem Bild links die Initiale L(ectio epistole beati Pauli apli. ad Romanos), in Gold, Silber, Minium, blau u. grün schattiert, fortlaufende Zeilen in Uncialis u. Rustica (das Blatt ist mit roter Seide an den Falz eines ehem. Bifol. angenäht)
- (p. 3-24) (Weihnachten, Epiphanie, Sonntage nach Epiphanie 1-28)
- (p. 16) (19) Dom. II. p. Theoph. h(abentes donationes)
- (p. 17) (20) Fer. III. a(udistis dispensationem), typisch st.gallisches unziales a, Buchstabenkörper in Gold, Binnenmotiv in Silber
- (p. 19) (23) Dom. IIII. p. Theoph. N(emini quicquam de beatis)
- (p. 20) (24) (Fer. III.) S(icut per unius delictum)
- (p. 21) ganzseitige Miniatur der Darbringung im Tempel: allseitig von Häusern, Türmen, Mauern u. Zinnen umgeben. Maria (SCA. MARIA) reicht das Kind (IHC. XPC.) mit ausgestreckten Armen Simeon (SYMEON IUSTUS), in ihrem Rücken Joseph (im Nimbus IOSEPH) u. weitere nimbierte Kopfsegmente von Verwandten. Simeon streckt die mit einem langen Tuch verhüllten Hände nach dem mit dem Kreuznimbus u. der Schriftrolle ausgezeichneten, in den Händen der Mutter thronenden Christus aus (teilweise stark übermalt)
- (p. 22) (25) In purificatione. H(aec dicit Dominus. Ecce ego mitto)
- (p. 22) (26) Lectio libri Sapientiae. E(go quasi vitis)
- (p. 23) (27) Dom. V. p. Theoph. I(nduite vos sicut electi Dei)
- (p. 24) (28) Fer. III. V(idete vocationem)
-
p. 25-103
(Vorfasten- u. Fastenzeit 29-80)
- (p. 25) (29) In Septuagesima. N(escitis quod hi qui in stadio)
- (p. 38) (38) In Quadragesma. O(rtamur vos ne in vacuum)
- (p. 52) (51) Dom. I (Die Dom. vacat), R(ogamus vos et obsecramus), Minium-Initiale mit zwei Reichenauer Pfeilspitzen u. einem St. Galler Dreiblatt mit spitzen Enden
- (p. 94) (74) Dom. in Pass. X(pc. assistens)
-
p. 104-165
(Palmsonntag, Karwoche, Ostern, I.-IV. Sonntag nach Ostern, Laet. maior 81-122)
- (p. 104) (81) Dom. in Palmis. H(oc enim sentite), Initiale 12. Jh.
- (p. 116) (88) In cena Dni. nri. Ihu. Xpi. feria quinta. C(onvenientibus vobis)
- (p. 118) (89) In parasceven. I(n tribulatione sua), Initiale mit st.gallischem Hundskopf
- (p. 121) (91) (In sabb. sco.). I(n principio creavit deus caelum), von unten aufsteigende, den Schaft umwindende Ranke mit stumpfen Seitentrieben u. Pfeilspitzen an den Enden, oben Hundskopf, die Pfeilspitze der Ranke zwischen den Lippen
- (p. 142) (102) (Letzte Karsamstagslesung) Nabuchodonosor rex
- (p. 147) Kreuzigungsbild: Christus, mit dem in der Mitte geknoteten Lendentuch bekleidet, die Arme waagerecht u. mit offenen Handflächen ausgebreitet, steht auf dem breiten Suppedaneum des Kreuzes, das im flachen Kalvarienhügel steckt, in den Kreuzfuß eingeschlagen drei Nägel, das Haupt bärtig, vom Kreuznimbus hinterfangen, die Augen offen, oben die Inschrifttafel mit IHS NAZAREN., zur Rechten Jesu Maria (MP. ΘV.) mit zum Sohn erhobenen Händen, zur Linken Johannes (S.IW), seine Rechte trauernd an die Wange haltend, über dem Querbalken des Kreuzes zwei Engelhalbfiguren in Verehrung, oben klein die Kugeln von Sol (SL.) u. Luna (LVN.), Miniumleiste als Bildrahmen
- (p. 148) (103) oben, Sabb. sco. S(i conresurrexistis.), Initiale in purpurner Zeichnung, Buchstabenkörper in der Mitte gespalten, von einfachen Schnallen zusammengehalten, das Binnenmotiv entwächst dem linken Band nach unten u. steigt, den Körper kreuzend, nach oben auf, stumpfe Seitentriebe u. Pfeilspitzen
- (p. 148) untere Hälfte, Bild der Frauen am Grabe: auf der rechten Seite zwei das Grab andeutende Säulen mit aufgesetzter Hängekuppel, im unteren Teil darin aufgerichtet der Sarkophag mit dem eingerollten Leichentuch, der Engel sitzt auf dem weggesprengten Deckel u. zeigt mit großem Gestus den beiden von links nahenden Frauen das leere Grab, in der Linken hält er den Zeremonienstab
-
p. 166-172
(Christi Himmelfahrt 123-127)
- (p. 167) (123) In vig. Ascensionis. Unicuique nostrum
- (p. 168) untere Hälfte Himmelfahrtsbild: Christus, großfigurig, steigt seitlich den Berg hinan, seine ausgestreckte Rechte wird von der Hand Gottes aus den Wolken ergriffen, unten links Maria u. ein Jünger, Jesus nachschauend, über ihren Häuptern vom Horizont angeschnitten eine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger (sonst den Engeln von Act 1,9-11 zugehörig), in der rechten Bildecke unten ebenso in Dreiviertelfigur u. nimbiert ein Jünger, der sein vom Glanz des Aufsteigenden geblendetes Angesicht mit der Hand verdeckt, Rahmen mit Leisten in Purpur u. Minium
- (p. 169) (124) (In Ascensa Dni.). P(rimum quidem sermonem feci), altertümliche Initiale mit Knotungen in Schaft u. Bogen
-
p. 173-265
(Pfingsten u. XXVI (sic) Sonntage nach Pfingsten 128-217)
- (p. 173) (128) In sabb. sco. Pentecost. In XII. lectiones. Temptavit Ds. Abraham, mit Tractus Cantemus usw.
- (p. 174) (129) I(n diebus illis. Cum Apollo esset Corrinthi)
- (p. 175) Ganzseitiges Bild zu Pfingsten, zweizonig, in der Mitte geteilt durch einen Streifen mit der Inschrift: SPIRITVS PARACLITVS, oben auf dem Gemmenthron, bärtig u. mit Kreuznimbus Christus, das Buch mit der Linken im Schoß haltend, mit der Rechten redend, von einer fast kreisrunden Mandorla hinterfangen, umgeben von den Halbfiguren der Evangelistensymbole von Matthäus (irrtümlich mit LV. bezeichnet), Johannnes (IOH.), Markus (S.L.?) u. Lukas (S.M.), unten in zwei Reihen die Jünger mit Petrus u. Paulus in der Mitte, über den Häuptern radial vom Thron Gottes ausgehend zwölf Strahlen des Hl. Geistes
- (p. 176) (130) (Die Dom. Pentecosten). D(um complerentur dies Pentecostes)
- (p. 177) (130) Fer. III. a(periens Petrus os), unzial, oben mit Vogelkopf, bekrönt von drei Pfauenfedern
- (p. 187) (141) (Dom. I. p. oct. Pent.). d(s. caritas est), über der Vorzeichnung des kapitalen D die unziale Ausführung
- (p. 221) (175) In nat. scor. Machabeorum et s. Felicitatis. Mulierem fortem
- (p. 226) (179) In nat. s. Laurentii, Q(ui parce seminat)
- (p. 229) (182) In assumptione s. Mariae. I(n omnibus requiem), ganzseitige Initiale in Minium, oben mit Vogelkopf, unten mit kniendem Atlanten
- (p. 236) (189) In n. s. Mariae. D(ns. possedit me initium viarum suarum), Text identisch mit Morgan 91 fol. 42v (Nr. 100) u. Genf 37a fol. 59v (Nr. 111)
- (p. 251) (205) In nat. sci. angeli Michahelis. S(ignificavit Dns. quae oportet)
- (p. 263) (217) In festivitate omnium scorum. V(idi angelum)
- (p. 265) (218) Dom. XXVI (sic) p. Pent. Non cessamus
- p. 267-282 (Adventssonntage 220-238)
- p. 282-308 (Commune sanctorum 239-271)
- p. 309-320 (Kirchweihe, Votiv- u. Totenmessen 272-289)
Origine del manoscritto:
- Das Epistolar enthält 289 Episteln, Proprium de tempore u. Proprium de sanctis sind gemischt. Letzteres enthält jedoch außer den Apostelfesten nur die Feste Stephanus (9), Johannes Ev. (10), Innocentes (11), Purificatio (25-26), Johannes Bapt. (157-158), Machabeorum et Felicitatis (175), Laurentius (178-179), Assumptio s. Mariae (181-182), Nativitas s. Mariae (189), Nat. s. angeli Michahelis (205) u. das in das Commune sanctorum eingeschobene Fest Gregors d. Gr. (259). Wie ich früher (Festschrift Duft 1995, S. 95f.) zeigte, findet sich das Fest der Makkabäerbrüder u. ihrer Mutter Felicitas (175) mit der Lesung Mulierem fortem (Prv 31,10-31) vor allem in Reichenauer Hss., etwa in Mainz Domschatz, Kautzsch Nr. 3, fol. 114v, u. Cambridge Fitzwilliam Museum, McClean 30, fol. 111r. Tatsächlich zeigt Sang. 371 insgesamt textlich große Übereinstimmungen mit diesen beiden Reichenauer Epistolaren, so dass anzunehmen ist, der Schreiber habe eine entsprechende Reichenauer Vorlage kopiert; St. Galler Spuren sind darin kaum zu entdecken. Dazu kommt, dass Hoffmann den Hauptschreiber (p. 15-320) im Kreis der Reichenauer Schreiber der Vita Uodalrici in Wien (ÖNB., Cod. 573) beheimatet sieht. Allerdings sind weder Schrift noch Initialstil dieses Teils typisch für die unter Abt Berno (1008-1048) auf der Reichenau entstandenen Hss. Die meisten Initialen waren ursprünglich nicht ausgeführt, einige sind wohl um die Mitte des 12. Jh. nachgetragen. Die dem 11. Jh. zuzuzählenden Initialen enthalten St. Galler u. Reichenauer Mischformen (Hunds- u. Pfauenköpfe sowie Pfeilspitzen).
- Um die Mitte des 12. Jh. zu datieren sind auf Grund der Schrift u. der Minium-Majuskeln die Seiten 3-14, deren Schreiber ganz ähnlich wie der Ergänzer der karolingischen Psalterien Zürich C 12 u. Sang. 20 (Nr. 32-33) schreibt. Damals dürfte auch das Einzelblatt mit dem Autorenbild des Apostels Paulus neu in Verbund mit der Hs. gebracht worden sein. Es wird sich ursprünglich am Anfang der Lagen 2 u. 3 (p. 3-14) befunden haben, die wohl wegen Beschädigung ersetzt wurden. Die Ausstattung der Bildseite p. 2 mit der Initiale L(ectio) in Gold, Silber, Minium, Blau u. Grün wird auf den Seiten 15-44 mit typischen St. Galler Initialen fortgesetzt. Im Stil u. der Farbgebung passt das Autorenbild am besten zu den Miniaturen in den Hss. der Mindener Sigebert-Gruppe (Nr. 152, 155, 156), zeigt aber auch Verwandtschaft zu den St. Galler Hss. aus der Mitte des 11. Jh. wie Sang. 376 u. Sang. 338 (Nr. 159, 161). Daher mag das Paulusbild im 3. Viertel d. 11. Jh. in St. Gallen als Bifol. der unfertig dorthin gelangten Hs. vorgesetzt worden sein. Der Maler u. Schreiber des Bifolium setzte zudem die Ausschmückung der Hs. auf den Seiten 3-46 mit Initialen in Gold u. Silber fort. Wahrscheinlich war auf einer der ersten Seiten auch ein Bild der Geburt Christi zu sehen. Im späteren 11. oder beginnenden 12. Jh. scheint der Anfang der Hs. derart beschädigt gewesen zu sein, dass man sich zum Austausch der ersten Seiten (3-14) u. zur Montage des Paulusbildes, wie sie heute noch zu sehen ist, entschloss.
- Die Miniaturen zu den Hochfesten in Sang. 371 sind im Reichenauer Skriptorium nicht unterzubringen, doch zeigen sie im Stil u. in der Farbgebung stellenweise Ähnlichkeit mit den Miniaturen beispielsweise in Sang. 338 u. 340 (Nr. 161, 162), könnten somit in St. Gallen gemalt worden sein. Wie die Lagen u. die Position der Bilder darin erkennen lassen, stand hinter dem Ganzen die Absicht, in Analogie zum Evangelistar Barb. lat. 711, ein Epistolar zu schaffen, das einen chronologischen Zyklus aus dem Leben Jesu enthält. Doch nahm sich der Illuminator keinen der damals in den Schulen der Salierzeit beliebten Zyklen zum Vorbild, sondern wählte aus verschiedenen, heute nicht mehr nachweisbaren Büchern östlicher Herkunft Bilder aus. Diese Auswahl zielte auf einen hohen antiquarischen Wert ihrer Aussage ab. Der Künstler wollte damit dem Betrachter das Leben Jesu, so wie es die Zeitgenossen Jesu erleben konnten, näher bringen. Hierbei lassen sich verschiedene Quellen aufzeigen. Das Osterbild mit den Frauen am Grabe (p. 148) dürfte einer Hs. des 9.-10. Jh. aus Konstantinopel, das Kreuzigungsbild (p. 147) ebenso einer frühbyzantinischen Hs. entstammen. Dagegen ist die «Ikone» des Pfingstbildes mit der Maiestas Domini eher einer koptischen Hs. entnommen. Die Apsisfresken des Apollonklosters von Bawit aus dem 5.-7. Jh. geben einen sicheren Hinweis darauf. Insgesamt muten die fünf Miniaturen in Sang. 371 wie Erinnerungsbilder an das Hl. Land an.
Bibliografia:
- Scherrer, S. 127.
- Bruckner III, Taf. XLVII (Abb. d. Himmelfahrt p. 168 u. der Darbringung im Tempel p. 21, irrtümlich als Ms.292, f. 175v bezeichnet, im Text wird die Hs. nicht angesprochen).
- Hoffmann, Buchkunst, S. 342.
- von Euw, Liber Viventium, S. 199f., 204-206, Abb. 143-145.
- von Euw, Die ottonische Kölner Malerschule. Synthese der Strömungen aus Ost und West, in: Kaiserin Theophanu I. Köln 1991, S. 251-280, bes. 278f., Farbabb. 13, 20.
- Anton von Euw, Der Einfluss des Ostens auf die abendländische Buchkunst im 9., 10. und 11. Jahrhundert, in: Kunst im Zeitalter der Kaiserin Theophanu. Akten des Internationalen Colloquiums, veranstaltet vom Schnütgen-Museum Köln, 13.-15. Juli 1991, hrsg. von Anton von Euw und Peter Schreiner, Köln 1993, S. 177-199, bes. S. 192-194, Abb. 15-16.
- Walter Berschin, Griechisches in der Klosterschule des alten St. Gallen, in: Byzantinische Zeitschrift 84/85, 1991/1992, S. 329-340, bes. 339.
- von Euw, Das Autorenbild im Epistolar Cod. Sang. 371, S. 93-103, Abb. 1, 5.
- von Euw, in: Kloster St. Gallen, S. 199.
- Tremp, Buchmalerei in St. Gallen und auf der Reichenau, in: Eremus u. Insula, S. 64f., Farbabb. S. 65.
- Berschin, Eremus und Insua (2005), S. 82.